«wenn’s nur keine so verfluchte Revolution mehr gebe, wie die letzte eine gewesen sei»

«wenn’s nur keine so verfluchte Revolution mehr gebe, wie die letzte eine gewesen sei»

Rolf Graber

Die helvetische Revolution aus der Retrospektive

Am 12. April 1798 wurde in Aarau die helvetische Republik ausgerufen. In vielen Gemeinden herrschte Volksfeststimmung. Der Zusammenbruch der alten Ordnung wurde mit Musik und Tanz gefeiert, sogar der Pfarrer musste mit einem Glas Wein auf Freiheit und Gleichheit anstossen. «In allen Dorfschaften wurden Freiheitsbäume errichtet, mit Danz, Jubel, Fressen und Saufen», schreibt ein verunsicherter Beobachter der Vorgänge.

Die Freude über die Gründung der neuen Republik hält jedoch nicht lange an. Die Schweiz wird zum Kriegsschauplatz der Grossmächte und die Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Interessengruppen führen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Diese Entwicklungen prägten auch die Erinnerungskultur und die Geschichtsschreibung über die Epoche. Die Helvetik wurde als Phase der Fremdherrschaft, als gescheitertes Zukunftsprojekt und als Negativfolie zum föderalistisch geprägten Bundesstaat gesehen, die Transformationspotentiale und kühnen Zukunftsentwürfe sowie die Realisierung von persönlicher Freiheit und Rechtsgleichheit für alle Schweizer (allerdings nicht für die Schweizerinnen!) wurden von der älteren Geschichtsschreibung nicht gewürdigt. «Mit der schematischen Durchführung der Gleichheit auf allen Gebieten uniformierte sie (Helvetische Republik d. V.) das vielstämmige Land und vernichtete seinen gliedstaatlichen Charakter völlig. Schliesslich wurden auch noch die Unabhängigkeit und Christlichkeit weitgehend aufgegeben. Nie seit ihrem Bestehen hat sich die Eidgenossenschaft so weit von ihrem Ursprungsprinzip entfernt», schreibt der renommierte Historiker Edgar Bonjour 1964.

Eine positivere Beurteilung dieser Epoche erfolgt erst in den 90er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts im Kontext des 200 Jahr-Jubiläums. Es ist der Aufbruchstimmung der späten 60er Jahre zu verdanken, dass eine neue Historiker- und Historikerinnengeneration ein positiveres Bild dieser Umbruchszeit entworfen hat. Die Neueinschätzung dieser Epoche zeigt sich auch in der Tatsache, dass das Gründungsdatum vom 12. April in Aarau sogar zum Anlass einer Feier wird, die versucht, die Bedeutung der helvetischen Revolution für die Entstehung der modernen Schweiz aufzuzeigen.
Im Anschluss an diese Beobachtungen stellt sich die Frage, wie die Zeitgenossen aus der Unterschicht dieses Ereignis wahrgenommen und aus der Retrospektive beurteilt haben. Antworten vermag uns ein Ego-Dokument zu geben: Die 1852 im Druck erschienenen Lebenserinnerungen von Jakob Stutz: «Sieben mal sieben Jahre aus meinem Leben». Der Autor hat von 1801 bis 1871 im Zürcher Oberland gelebt. Als Heimweber, Strumpfstricker und Hilfslehrer hatte er einen tiefen Einblick ins Sozialmilieu der Oberländer Heimarbeiterbevölkerung. Obwohl er die Zeit der helvetischen Revolution 1798-1803 noch nicht bewusst erlebt hat, weil diese in seine frühe Kindheitsphase fällt, enthält der Text Äusserungen zum Verhalten der Familienmitglieder und deren Erwartungen und Hoffnungen. Besonders interessant ist der Bericht über ein Ereignis im Oktober 1802.

Als Napoleon im August 1802 die französischen Truppen aus der Schweiz abzieht, gewinnen die aristokratischen Kräfte in den Städten und Länderorten wieder die Oberhand. Um einen konterrevolutionären Umsturz zu verhindern und die Errungenschaften der Republik zu verteidigen, belagert der helvetische General Joseph Leonz Andermatt mit seinen Truppen die Stadt Zürich. Trotz einem Bombardement mit 260 «glühenden Kugeln« und 40 Granaten bleibt die Belagerung erfolglos und die helvetischen Truppen können die Stadt nicht erobern. Besonders enttäuscht über diese Niederlage sind die Angehörigen eines Hilfskontingents aus dem Zürcher Oberland, die sich den Truppen Andermatts angeschlossen haben. Der General ist über diese Hilfe keineswegs erfreut und spricht von Gesindel, das die Hoffnung auf Plünderung herbeilockte.

Einen interessanten Einblick in die Motive, Erwartungen und Hoffnungen dieser Menschen vermittelt die Autobiographie von Jakob Stutz, denn er berichtet über die Heimkehr des Vaters seines Vetters von dieser militärischen Operation: «Er vergesse sein Leben nicht, mit welch verdriesslichem Gesicht der Aetti [Vater] zur Türe herein gekommen sei und den leeren Sack mit einem Fluch in den Winkel geworfen habe und wie dann ein Brüellen und Lästern über die verdammten ,Züriherren’ entstanden sei.» Zudem mokiert er sich über jene Generation, die den Mut nicht fand, die Stadt zu plündern und bezeichnet sie als «dunders Fürchtgreten und dumme Kühschwänz.» Enttäuscht ist auch die Mutter, weil sie in der Hoffnung auf die mitgebrachten Schätze «schon mehr als vier Pfund Anken verküchelt habe.» Im abschliessenden Kommentar kommen die Erwartungen der Unterschichten und die Enttäuschung über die ausgebliebenen Verbesserungen klar zum Ausdruck: «Er wolle aber treulich und wohl zufrieden sein, wenn’s nur keine so verfluchte Revolution mehr gebe, wie letzte eine gewesen sei, wo man immer meine, man komme viel über und am Ende viel geben müsse.» Der Bericht über die gescheiterte Aktion und die Reaktionen der Beteiligten gehören zu den wenigen Quellen, die uns Auskunft über die Erwartungen, Hoffnungen und Utopien der unteren Gesellschaftsschichten geben.

Für die Kleinbauern und Heimgewerbetreibenden haben vor allem materielle Anliegen Priorität, weil sich ihre soziale Lage während den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts stark verschlechtert hat. In dieser Zeit beginnen sich nämlich strukturelle und konjunkturelle Krisenaspekte in der Baumwollherstellung zu verschränken. Durch die Einfuhr englischen Maschinengarns und die Errichtung der ersten mechanischen Spinnereien in der Schweiz werden die Existenzbedingungen der Heimarbeiterinnen und Heimarbeiter immer prekärer. Absatzstockungen und Preiszerfall, bedingt durch die Koalitionskriege, verschlechtern deren ökonomische Situation zusätzlich. Dazu kommt die Auspowerung der Landbevölkerung im Kriegsjahr 1799 durch fremde Heere. Es ist deshalb nicht erstaunlich, dass die politischen Forderungen nach Freiheit und Gleichheit von den Betroffenen unmittelbar ins Materielle übersetzt werden, wie ein Zeitzeuge aus der ländlichen-bürgerlichen Oberschicht konsterniert feststellt: «Die Worte ‘Freiheit und Gleichheit’ ertönten von Mund zu Mund, obgleich keiner den Sinn dieser Worte zu deuten vermochte. Der gemeine Pöbel verstand darunter nicht bloss Gleichheit der Rechte sondern auch gemeinsame Teilung der Güter.»

Die kleinen Leute erwarten von der helvetischen Revolution eine «Zeit des Teilens». Nicht nur der Beobachter auf der Zürcher Landschaft, sondern auch Meisterdenker wie der Philosoph Georg Friedrich Wilhelm Hegel versuchen diese Verhaltensdispositionen zu erklären. Er schreibt 1821 in seiner Rechtsphilosophie: «Die Armut macht noch keinen Pöbel; dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende […] Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. […] Somit entsteht im Pöbel das Böse, dass er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch Arbeit zu finden und doch seine Subsistenz als sein Recht anspricht.» Auch Immanuel Kant bemerkt, dass das Ganze der bürgerlichen Gesellschaft mit einem aufsässigen Pöbel konfrontiert sei, der gleichsam als Negation zum bürgerlichen Ganzen auftrete. Indem er den «rottierenden Pöbel» als Gefahr wahrnimmt, deckt er zugleich die Dichotomie der gesellschaftlichen Entwicklung auf, nämlich die Verelendung eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung, ein Phänomen, das in der sozialgeschichtlichen Forschung mit dem Begriff «Pauperismus» beschrieben wird.

Wie die Bemerkungen der beiden Philosophen zeigen, nehmen die von der Armut Betroffenen diese Situation nicht einfach hin, sondern entwickeln spezifische Widerstandsformen, Abwehr- und Überlebensstrategien. Dem liberal-kapitalistischen Modernisierungspfad setzen sie demonstrativ das Recht jedes Menschen auf eine menschenwürdige Existenz entgegen. Der englische Sozialhistoriker Edward Palmer Thompson hat für diese bei den heimindustriell-gewerblichen Unterschichten vorhandenen Gerechtigkeitsvorstellungen den Begriff «moralische Ökonomie» eingeführt und gezeigt, dass diese Vorstellungen aus deren Protestverhalten und Ritualen erschlossen werden können. Der in Form von kapitalistischen Marktpraktiken sich durchsetzenden politischen Ökonomie setzen die Armen ihren Anspruch auf ein existenzsicherndes Auskommen entgegen. Dieser Anspruch steht auch hinter dem Auftritt der verarmten Heimarbeiter und Heimarbeiterinnen im Kontext der Machtkämpfe in der Endphase der helvetischen Republik und prägt das negative Urteil der Beteiligten über die helvetische Revolution. Sie unterziehen diese einer Kosten-Nutzen-Rechnung, deren Bilanz negativ ausfällt. In einem aus dieser Zeit stammenden «Spinnerlied», das als Quelle noch überliefert ist, kommen die hohen Erwartungen und die enttäuschten Hoffnungen klar zum Ausdruck:

Chumme grad ietz grad us de Stadt
Hei mit Wyb und Chind’re:
Ha mit General Andermatt
Züri welle plünd’re.

Plunder für ganz Chelleland
Hämmer welle hole:
Gold und Silber, Diamant,
Alli Säck’ ganz volle.

Doch vergäbis vor der Stadt
Simmer Alli g’sesse,
Will der ung’schickt Andermatt
D’ Chugle hät vergässe.

Mini Säck, die bring’ i hei
Leer vu alle Schätze,
Langi Nase, müedi Bei,
Und die alte Fetze.

Schnurre, schnurre um und um,
Redli, trüll di ume,
euseri Sach gaht schüüli chrumm,
d’Leue thüend scho brumme.


Verwendete und weiterführende Literatur:

Böning Holger, Der Traum von Freiheit und Gleichheit. Helvetische Revolution und Helvetische Republik 1798-1803 – Die Schweiz auf dem Weg zur bürgerlichen Demokratie, Zürich 1998.

Graber Rolf, «Der verruchte und alles ekelhaftmachende Sansculottismus». Plebejische Protestbewegungen als Wegbereiter einer Fundamentaldemokratisierung, in: René Roca, Andreas Auer (Hg.), Wege zur direkten Demokratie in den schweizerischen Kantonen, Zürich, Basel, Genf 2011 (Schriften zur Demokratieforschung, Bd. 3), S. 247-263.

Graber Rolf, Die Protestbewegungen zur Zeit der Helvetik und das Projekt der Moderne. Zur ambivalenten Bedeutung der Helvetik für die Entstehung der modernen Schweiz, in: Helmut Reinalter (Hg.), Die Französische Revolution und das Projekt der Moderne, Wien 2002 (Vergleichende Gesellschaftsgeschichte und politische Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 14), S. 73-88.

Graber Rolf, Zeit des Teilens. Volksbewegungen und Volksunruhen auf der Zürcher Landschaft, 1794-1804, Zürich 2003.

Groh Dieter, Anthropologische Dimensionen der Geschichte (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 992), Frankfurt a. M. 1992.

Luminati Michele, Die helvetische Republik im Urteil der schweizerischen Geschichtsschreibung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte, 5. Jhrg. 1983, S. 163-175.

Meyer Wilhelm, Die Beschiessung der Stadt Zürich durch die helvetischen Truppen im September 1802, in: Zürcher Taschenbuch, 1. Jhrg. (1858), S. 65-136.

Thompson Edward Palmer, Plebejische Kultur und moralische Ökonomie. Ausgewählt und eingeleitet von Dieter Groh. Übersetzt von Günter Lottes, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1984.